«Bestehende Bauten können als Wissenskörper interpretiert werden – Sie sind voller Geschichten, Artefakte, Bedeutungen und Spuren»
Anna-Lydia Capaul, Projektinitiantin
Die leerstehenden Bauten werden anhand von Fahrradtouren erfasst und dokumentiert. Foto: Romana Schwitter
(Vaduz) 1.1.2021–28.2.2022. Viele leerstehenden Bauten werden abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Dies, obwohl der Baubestand Identität stiftet, Ortsbilder prägt und eine bestehende Ressource bildet. Die vorherrschende Abrisspraxis wird im Rahmen dieses Forschungsprojektes beleuchtet. Leerstände werden dabei als Wissensspeicher und als Träger von Erinnerungen, Geschichten und Träumen verstanden. Leerstehende Bauten bergen einen grossen Fundus an sozialen, kulturellen und architektonischen Ressourcen, welche im Alpenraum bisher noch kaum erschlossen wurden. Daraus wird folgende Forschungsfrage abgeleitet: Wo befinden sich leerstehende Bauten, wie charakterisieren sie sich und welche informellen Nutzungen spielen sich darin ab? In einem ersten Schritt werden die Leerstände aufgespürt, dokumentiert und in einer Datenbank gesammelt. Danach wird eine investigative Analyse durchgeführt, um Verborgenes aufzudecken. Die Verwertung der Ergebnisse sowie die Sensibilisierung der lokalen Bevölkerung im Umgang mit Leerbestand findet über den Aufbau einer öffentlich zugänglichen Datenbank statt. Ziel des Forschungsprojektes ist das Sichtbarmachen von Leerständen und ihren Geschichten.
Projektteam: Anna-Lydia Capaul, Johannes Herburger
Logbuch
Analyse der statistischen Daten
Autor: Johannes Herburger
(Vaduz) 27.1.2022. Insgesamt existierten in Liechtenstein am Stichtag 31. Dezember 2021 21'065 Wohnungen von denen 2'799 nicht dauernd bewohnt waren. Dies entspricht etwa 13,3 % aller Wohnungen und würde nach der Definition von Rink und Wolf (2015) eine sehr hohe Leerstandsquote und eine Leerstandskrise bedeuten. Betrachtet man die Liechtensteiner Gemeinden und Dörfer genauer, so sieht man, das beinahe alle Gemeinden und Dörfer am Talboden des Rheintals eine Leerstandsquote von unter 10 % aufweisen. Ausnahmen bilden lediglich Nendeln und Schaanwald sowie Vaduz. In den Bergdörfern ist die Lage deutlich anders, dort liegen mit Schellenberg, Planken und Triesenberg alle Gemeinden über 10 %. Insbesondere der Blick auf die Leerstandsquote von Triesenberg verdeutlicht, dass es im Wohnungsregister auch nicht dauern bewohnte Wohnungen zu geben scheint, die die Ergebnisse deutlich verzerren, weil die Definition möglicherweise nicht mit der realen Nutzung übereinstimmt. Würde man die Gemeinde Triesenberg aus dem Wohnungsregister entfernen, so sänke die Leerstandsquote schlagartig um über drei Prozentpunkte auf 10,1 %.
Gemeinde | dauernd bewohnt und am Stichtag bewohnt | dauernd bewohnt und am Stichtag nicht bewohnt | nicht dauernd bewohnt | Summe | Leerstandsquote |
Balzers | 1'995 | 86 | 229 | 2'310 | 9,91% |
Eschen | 1'273 | 58 | 142 | 1'473 | 9,64% |
Gamprin-Bendern | 752 | 31 | 68 | 851 | 7,99% |
Mauren | 1'557 | 60 | 161 | 1'778 | 9,06% |
Nendeln | 618 | 33 | 79 | 730 | 10,82% |
Planken | 191 | 6 | 27 | 224 | 12,05% |
Ruggell | 939 | 16 | 90 | 1'045 | 8,61% |
Schaan | 2'768 | 127 | 316 | 3'211 | 9,84% |
Schaanwald | 364 | 24 | 48 | 436 | 11,01% |
Schellenberg | 432 | 20 | 72 | 524 | 13,74% |
Triesen | 2'416 | 142 | 235 | 2'793 | 8,41% |
Triesenberg | 1'220 | 66 | 881 | 2'167 | 40,66% |
Vaduz | 2'911 | 161 | 451 | 3'523 | 12,80% |
Liechtenstein | 17'436 | 830 | 2'799 | 21'065 | 13,29% |
Um sich der extrem hohen Leerstandsquote von Triesenberg anzunähern, wird die Leerstandsquote auf die Bauperiode und den Gebäudetypus aufgegliedert. In der folgenden Tabelle sind die entsprechenden Leerstandsquoten aufgelistet. In der Kategorie Einfamilienhäuser sind vor allem die extrem hohen Leerstandsquoten in Gebäuden der Bauperioden vor 1971 auffällig. Von den 165 Einfamilienhäusern der Bauperiode 1946-1960 sind etwa 116 als nicht dauernd bewohnt gemeldet, was einer Leerstandsquote von 70,3 % entspricht. Eine ähnlich hohe Leerstandsquote ist auch bei Einfamilienhäusern der Bauperiode vor 1919 erkennbar. Während die Leerstandsquote dann bei Einfamilienhäusern der Bauperioden 1971–1980 und 1981–1990 deutlich abnimmt, so steigt sie ab der Bauperiode ab 1991 wieder über 20 % an. Bei den Mehrfahmilienhäusern ist die Problematik ähnlich, aber nicht ident gelagert. Hier gibt es keine einzige Bauperiode in der nicht weniger als 20 % aller Wohnungen als nicht dauern bewohnt gemeldet sind. Außer der Periode 2001-2010 sind in allen Bauperioden mehr als ein Drittel aller Wohnungen als nicht dauern bewohnt gemeldet. Während die hohe Leerstandsquote bei den Einfamilienhäusern noch mit Ferienwohnungen in Steg oder Malbun oder generell altem Gebäudebestand argumentiert werden kann, so dürfte die Lage bei den Mehrfamilienhäusern etwas komplexer sein.
Einfamilienhaus | Bauperiode | Wohnungen gesamt | nicht dauernd bewohnt | nicht dauernd bewohnt in % |
vor 1919 | 197 | 110 | 55,8% | |
1919–1945 | 65 | 18 | 27,7% | |
1946–1960 | 165 | 116 | 70,3% | |
1962–1970 | 120 | 51 | 42,5% | |
1971–1980 | 72 | 7 | 9,7% | |
1981–1990 | 102 | 3 | 2,9% | |
1991–2000 | 172 | 39 | 22,7% | |
2002–2010 | 107 | 32 | 29,9% | |
ab 2011 | 80 | 30 | 37,5% | |
Mehrfamilienhäuser | vor 1919 | 50 | 25 | 50,0% |
1919–1945 | 54 | 18 | 33,3% | |
1946–1960 | 93 | 40 | 43,0% | |
1961–1970 | 95 | 49 | 51,6% | |
1971–1980 | 111 | 52 | 46,8% | |
1981–1990 | 59 | 23 | 39,0% | |
1991–2000 | 195 | 106 | 54,4% | |
2001–2010 | 143 | 32 | 22,4% | |
ab 2011 | 100 | 54 | 54,0% | |
Gebäude mit teilweiser Wohnnutzung | 45 | 26 | 57,8% |
Schon anhand des Beispiels aus Triesenberg konnte gelernt werden, dass die Leerstandsquote deutlich von der Bauperiode und scheinbar auch von der Anzahl der Wohnungen pro Gebäude abhängt. Die folgende Tabelle zeigt daher die Leerstandsquote von Gebäude, die in einer bestimmten Bauperiode errichtet wurden und über eine bestimmte Anzahl an Wohnungen verfügen an. In allen rot markierten Feldern liegt der Anteil der nicht dauernd bewohnten Wohnungen über dem Landesschnitt von 13,29 %. Deutlich erkennbar ist wiederum, dass die Leerstandsquote in den Bauperioden vor 1960 über beinahe alle Gebäudekategorien hinweg deutlich über dem Landesschnitt liegt. So sind etwa 27,31 % aller Gebäude, die vor 1919 gebaut wurden und mit einer Wohnung ausgestattet sind, als nicht dauern bewohnt gemeldet. Aufgrund kleiner Fallzahlen insbesondere in den Gebäuden mit mehr als vier Wohneinheiten kann es auch zu Extremwerten kommen (siehe Gebäude mit fünf Wohnungen in der Bauperiode 1946–1960). Ein zweiter wichtiger Aspekt ist, dass die Leerstandsquote in Gebäuden mit zwei Wohneinheiten beinahe allen Bauperioden über dem Landesschnitt liegt. Sogar in der Bauperiode 2001–2010, die insgesamt die niedrigste Leerstandsquote aufweist liegt dieser Wert bei knapp 13 %. Hierbei könnte es sich beispielsweise um Einliegerwohnungen handeln, weshalb in einem weiteren Schritt auch die Wohnungsgröße genauer betrachtet wurde.
Wohnungen pro Gebäude | vor 1919 | 1919–1945 | 1946–1960 | 1961–1970 | 1971–1980 | 1981–1990 | 1991–2000 | 2001–2010 | ab 2011 |
1 Whg | 27,3 % | 17,3% | 25,3% | 9,7% | 4,7% | 2,2% | 5,2% | 5,5% | 7,0% |
2 Whg | 26,2% | 26,4% | 28,4% | 21,8% | 19,1% | 22,8% | 19,6% | 12,9% | 13,9% |
3 Whg | 28,0% | 29,5% | 20,4% | 20,5% | 17,1% | 17,6% | 13,7% | 5,8% | 7,7% |
4 Whg | 10,5% | 16,7% | 4,4% | 23,5% | 21,1% | 15,4% | 14,4% | 8,9% | 13,3% |
5 Whg | 29,5% | 0,00% | 65,0% | 5,7% | 16,4% | 6,9% | 9,8% | 4,3% | 8,5% |
6 Whg | 14,3% | 22,2% | 10,0% | 12,1% | 11,9% | 12,9% | 7,4% | 6,4% | 6,5% |
7 Whg | 33,3% | 21,4% | 4,8% | 14,3% | 9,0% | 9,4% | 12,4% | 9,1% | 9,4% |
8–13 Whg | 21,6% | 39,4% | 12,5% | 10,2% | 13,2% | 18,3% | 6,8% | 3,8% | |
14–max. Whg | 30,3% | 29,1% | 19,6% | 6,1% | 35,2% | 5,6% | 19,3% | ||
Summe | 25,9% | 21,5% | 25,6% | 15,7% | 12,5% | 10,1% | 11,5% | 7,2% | 8,6% |
In der folgenden Graphik sind die Leerstandsquoten für alle Wohnungsgrößen mit einer Säule dargestellt. Um die bekannten Problemfelder Bauperiode und Gebäude mit zwei Wohnungen ebenfalls aufgreifen zu können, sind diese beiden Indikatoren ebenfalls mit einer grauen bzw. blauen Säule bei der jeweiligen Wohnungsgröße dargestellt. Es wird ersichtlich, dass die Leerstandsquote neben der Bauperiode von der Größe abhängt. So liegt die Leerstandsquote bei Kleinstwohnungen unter 20 m² bei 45 %. Befinden sich diese Kleinstwohnungen in Gebäuden mit zwei Wohnungen, so steigt der Wert sogar auf 50 % an. In Gebäuden, die vor 1960 errichtet wurden liegt der Wert mit 48,6 % in etwa dazwischen. Auch in weiteren Kleinwohnungen mit 21-40 m² Wohnfläche liegt die Leerstandsquote bei knapp über 33 % und in Wohnungen mit 41-60 m² bei knapp 25 %. Die Situierung der jeweiligen Wohnung in einem Gebäude mit zwei Wohnungen oder einem vor 1960 erbauten Gebäude lässt die Leerstandsquote sprunghaft ansteigen. Insbesondere in Gebäuden mit zwei Wohnungen dürften diese Zahlen anzeigen, dass es sich entweder um Einliegerwohnungen handelt, die keine Meldung aufweisen, oder aber die Wohnungen schlicht anders genutzt werden (z.B. als Büro, Lager etc.). Je größer die Wohnungen werden, desto geringer wird auch die Leerstandsquote. Ab 121 m² liegt die Leerstandsquote in allen Wohnungsgrößen bis zu 301 m² deutlich unter 10 %. Be Wohnungen zwischen 221 m² und 300 m² liegt die Leerstandsquote bei unter 5 %. Ebenfalls wird bei diesen Wohnungsgrößen der Einfluss des Indikators „Gebäude mit zwei Wohnungen“ geringer, wenngleich die Bauperiode bzw. das Alter einer Wohnung die Leerstandsquote nochmals deutlich ansteigen lassen kann. Liegt die Leerstandsquote bei Wohnungen zwischen 121 m² und 180 m² zwischen 6,5 % und 8,2 %, so liegt sie in Gebäuden der Bauperiode vor 1960 immer noch bei knapp 20 %.
Leerstandsquote und Wohnungsrenovierungen
Es erscheint daher sinnvoll, die Leerstandsquote auch in Bezug auf die Renovierungsperiode zu betrachten. Die folgende Graphik zeigt daher mittels Säulen für jede Renovierungsperiode die Anzahl der nicht dauernd bewohnten Wohnungen, die älter als 1960 sind, sowie die gesamte Anzahl der Wohnungen die älter als 1960 sind an. Die grüne Linie zeigt die Leerstandsquote in renovierten Gebäuden, die älter als 1960 sind, insgesamt an. Dieser Wert liegt bei immer noch 20,9 %, wenngleich die Leerstandquote bei nicht renovierten Gebäuden bei 28,3 % liegt (graue Linie). Die graue Linie zeigt nun die Leerstandsquote in Wohnungen der jeweiligen Renovierungsperiode an. So sind von den 253 Wohnungen die vor 1960 erbaut wurden und in der Periode 1971-1980 renoviert wurden immer noch 70 nicht dauernd bewohnt, was einer Quote von 27,7 % entspricht. Auch in Gebäuden die vor 1960 erbaut wurden und zwischen 1991 und 2000 renoviert wurden liegt die Leerstandsquote bei 17,3 % was allerdings einem verhältnismäßig niedrigen Wert entspricht. Insgesamt zeigt sich, dass die Leerstandsquote über 20 % liegt, selbst wenn alte Gebäude vor 1990 renoviert wurden, da die Standards aus dieser Zeit möglicherweise nicht mehr den heutigen entsprechen.
Referenzen
Rink, D., & Wolff, M. (2015). Wohnungsleerstand in Deutschland. Zur Konzeptualisierung der Leerstandsquote als Schlüsselindikator der Wohnungsmarktbeobachtung anhand der GWZ 2011. Raumforschung und Raumordnung. https://doi.org/10.1007/s13147-015-0361-8
Workshop an der Biennale in Venedig
Autorin: Anna-Lydia Capaul
(Venedig) 11.10.2021. Einer der vier Workshoptage an der 17. Architekturbiennale in Venedig stand im Zeichen der Leerstandsforschung. Als Location diente das Vaporetto Capitan Bragadin, das in der Lagune von Venedig angedockt ist. Ausgestattet mit einer Kaffeemaschiene, Tischen und Stühlen dient das Vaporetto als temporäres Leerstandsbüro. Die Studierenden suchten in der Umgebung nach leerstehenden Bauten und Orten, welche sie anschliessend dokumentierten.
Studierende der Universität Liechtenstein nutzten das Vaporetto Capitan Bragadin in ein temporäres Leerstandsbüro um, worin Geschichten gesammelt wurden. Foto: Romana Schwitter
Foto: Romana Schwitter
Foto: Anna-Lydia Capaul
Foto: Romana Schwitter
Die "Leerstand" Fahrradcaps wurden für den Workshop in Venedig hergestellt und sorgten für die Sichtbarkeit der Gruppe. Foto: Anna-Lydia Capaul
Fahrradtouren durch Liechtenstein
Autorin: Anna-Lydia Capaul
(Vaduz) 10.9.2021. Der Ausgangspunkt für die Datenerhebung sind Erkundungen mit dem Fahrrad. Das Fahrrad eignet sich als Fortbewegungsmittel, weil längere Strecken als zu Fuß zurückgelegt werden können. Dennoch bin ich freier, mich intuitiv zu bewegen als in einem motorisierten Fahrzeug. Neben den Aspekten der Nachhaltigkeit sind spontane Abstecher zu einem Leerstand ein weiterer Vorteil. Durch das Radfahren wird die Umgebung anders wahrgenommen. Lucius Burckhardt beschreibt in seiner Spaziergangstheorie das Gehen als eine Methode der Wahrnehmung. Die Erzählungen und Erinnerungen eines Spaziergängers bilden nicht ein Bild der Wirklichkeit, sondern eine Kette von Eindrücken. Die Erzählungen sind auch nicht die tatsächlich gesehenen Orte, sondern Synthesen von ihnen (2006, S. 329). Das Ergebnis dieser ersten Phase ist eine vorläufige Liste der leerstehenden Gebäude, visuelle Dokumentationen und textliche Aufzeichnungen des Erscheinungsbildes und der Spuren.
In einer ersten Erkundungsphase wurden leerstehende Gebäude durch Fahrradtouren aufgespürt. Die Gebäude werden auf Anzeichen wie das Fehlen eines Türschilds, einen nicht angeschriebenen Briefkasten und den allgemeinen Zustand der Bausubstanz überprüft. Foto: Romana Schwitter